Jugend am Werk Betriebsrat Sozial:Raum

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„Mit (k)einem Fuß im Kriminal?“ – Müssen Betreuer:innen von behinderten Menschen Angst vor Haftung haben?

Ein Artikel des Magazins “Arbeit & Wirtschaft” vom 03. Juli 2024

Ein erwachsener behinderter Mann wollte allein einkaufen gehen. Monatelang wurde mit ihm ein Verkehrstraining absolviert und man hatte den Eindruck, dass man ihn allein gehen lassen könne. Einmal benutzte er nicht den Zebrastreifen und lief auf die Straße. Die herankommende Autofahrerin stieß mit ihm zusammen – verletzte ihn, aber auch das Auto wurde beschädigt – und klagte daraufhin die Institution der Behindertenhilfe auf Schadenersatz, weil sie der Meinung war, die Institution habe ihre „Aufsichtspflicht“ verletzt. Die neueste Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bringt zum Ausdruck, dass keine „Aufsichtspflicht“ über den Klienten, sondern eine „Schutz- und Sorgfaltspflicht“ besteht. Außerdem gibt es nun etwas mehr Klarheit, wie viel „Sorgfalt“ Betreuer:innen ausüben müssen.

In der Vergangenheit wurde angenommen, dass für Betreuer:innen eine Aufsichtspflicht bestehe. Nun hat der Oberste Gerichtshof in einem interessanten und Aufsehen erregenden Urteil die Zeichen der Zeit (und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung) in seine neueste Entscheidung einfließen lassen. Wenngleich damit keinesfalls alles klar ist, kann doch ein wichtiger Trend abgelesen werden, der für die tägliche Arbeit von Betreuer:innen von Bedeutung ist.

Um die Haftung für Betreuer:innen von behinderten Menschen zu skizzieren, muss man in die frühen 1980er Jahre zurückblicken.

Klient verletzt anderen Klienten mit einem Schistock am Auge: keine Haftung für Betreuer:innen

In diesem Fall wurde die Institution, bei der der behinderte Mensch lebte, und die Betreuerin auf Schmerzensgeld und Schadenersatz geklagt:

Ein damals wegen „Geistesschwäche beschränkt entmündigter“ (Zitierung aus Originaltext) Klient bekam eine Schilanglauf-Ausrüstung geschenkt, die er aus Freude darüber in seinem Zimmer verwahrte. Der Klient wurde von einem anderen Klienten mit einem zu der Ausrüstung gehörenden Schistock so schwer am Auge verletzt, dass dieses in der Folge durch ein Glasauge ersetzt werden musste.

Geklagt wurden damals die Betreuerin und die Institution, weil ihnen vorgeworfen wurde, sie hätten die Aufsichtspflicht verletzt. Der OGH hielt schon damals fest, dass das „Maß der Aufsichtspflicht“ nicht generell festgelegt werden könne, es komme auf die Umstände des Einzelfalles an und richte sich nach Kriterien wie Alter, Entwicklungsstand und Eigenschaften des Aufsichtsbedürftigen, Grad der Gefährlichkeit der Situation und der Frage, was (…) vernünftigerweise verlangt werden dürfe, um das Ziel möglichst weitgehender Selbstständigkeit sowie Integrierung in die Gesellschaft zu erreichen. An das Maß der Aufsicht seien keine überspannten Anforderungen zu stellen. Eine schuldhafte Vernachlässigung der Aufsichtspflicht lag nach Ansicht des OGH nicht vor. Daher keine Haftung wegen Verletzung der Aufsichtspflicht für Institution und Betreuer:in!

Klient läuft aus dem Einkaufszentrum weg und wird verletzt: keine Haftung für Betreuer:innen

Dieser Fall war vor allem deshalb interessant, weil das Erstgericht einen psychiatrischen Sachverständigen bestellt hatte, um mit diesem die Frage der „Gefährdung“ zu erörtern. Das Oberlandesgericht kam zum Ergebnis, dass „vom bloßen Fachwissen eines Psychiaters“ nicht darauf geschlossen werden kann, womit im Rahmen der Behindertenarbeit tätige Betreuer:innen rechnen müssen. Dabei kommt es auf die Beobachtungen und Erfahrungen an, die sie im täglichen Umgang mit den behinderten Menschen machen. Die Anforderung, einen geistig behinderten Menschen in einer Situation, in der für den bzw. die Betreuer:in kein Grund zur Annahme besteht, dieser könnte sich selbst gefährden, auch nicht bloß für kurze Zeit aus den Augen zu lassen, wäre realitätsfremd und würde eine sinnvolle Arbeit mit geistig behinderten Menschen, deren Ziel es unter anderem ist, diese auch am Alltagsleben teilhaben zu lassen, praktisch unmöglich machen. Daher auch hier keine Haftung wegen Verletzung der Aufsichtspflicht.

Keine Aufsichtspflicht, sondern eine Schutz- und Sorgfaltspflicht, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist zu beachten

Vorweg: Im aktuellen Verfahren wurde nur mehr die Institution und nicht mehr zusätzlich auch noch der bzw. die Betreuer:in geklagt. Auch eine Haftung der Institution ist im konkreten Fall nicht gegeben. In seiner neuesten Entscheidung weist der OGH darauf hin, dass mangels gesetzlicher oder vertraglicher Grundlage keine Aufsichtspflicht im Sinne des § 1309 ABGB besteht. Allerdings können vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten (…) zur Verpflichtung führen, betreute Menschen vor Schäden durch andere zu schützen. Es ist nicht Aufgabe der (professionellen) Pflege und Betreuung, alle Risiken gegenüber außenstehenden Dritten auszuschließen, weil dies auf Kosten der Selbstbestimmung des volljährigen Behinderten ginge und mit jeder Sicherheitsmaßnahme regelmäßig auch Eingriffe in die Freiheitsrechte des Betroffenen verbunden wären. Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung eines Volljährigen gegenüber außenstehenden Dritten kommt regelmäßig nicht auf der Grundlage der Verletzung einer Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB, sondern nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht. Bei deren Konkretisierung sind die Wertungen der UN-Behindertenkonvention, insbesondere das Recht der behinderten Person auf volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherstellung ihrer persönlichen Mobilität mit größtmöglicher Selbstbestimmung, zu berücksichtigen.

Und wie viel Sorgfalt brauchen Betreuer:innen demnach?

Eine pauschale Antwort gibt es dazu leider nicht, immerhin aber vernünftige Anhaltspunkte. Nach der neueren Lehre ist insbesondere jenes Ausmaß an Sorgfalt einzuhalten, das sich an einem maßgetreuen Menschen orientiert, also daran, was von einem bzw. einer ordentlichen, pflichtbewussten Durchschnittsmitarbeiter:in in der konkreten Situation erwartet werden kann. Es ist dabei jene Achtsamkeit unerlässlich, die im normalen Umgang mit – z. B. alten – Menschen berechtigterweise verlangt wird. Wenn eine konkrete Gefährdung vorhersehbar ist, rechtlich zulässige Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen und die zur Gefahrenabwehr erforderliche Maßnahme der jeweiligen Person auch zumutbar ist, besteht die Pflicht, die schadensvermeidende Maßnahme zu setzen.

Beachtlich an der neuen Entscheidung ist, dass sich der OGH ausdrücklich vom Begriff „Aufsichtspflicht“ verabschiedet und nun „Schutz und Sorgfaltspflicht“ verwendet. Sensationell ist, dass ausdrücklich der Wert der Selbstbestimmung im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung erwähnt wird.

In einfachen Worten: Wer sorgfältig ist, ohne dabei hellsehen zu müssen, aber konkrete und ersichtliche Gefahren ausschließt und dabei insbesondere auch die Rechte der behinderten Menschen im Auge behält, befindet sich keinesfalls mit einem Fuß im Kriminal.

 

Sonderwochengeld

Hast du schon mal von der “Wochengeldfalle” gehört?
Bis zur Einführung des Sonderwochengeldes hatten Mütter, die sich in Karenz befanden, aber kein Kinderbetreuungsgeld mehr bezogen haben, keinen Anspruch auf Wochengeld (= Geldleistung 8 Wochen vor der Geburt und bis zu 8 oder 12 Wochen nach der Geburt) für ein weiteres Kind. Ein Anspruch auf Wochengeld in solchen Konstellationen war nur gegeben, wenn die Schutzfrist (= 8 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin) für das weitere Kind noch in den Bezugszeitraum des Kinderbetreuungsgeldes für das vorherige Kind fiel. Dies führte dazu, dass sehr viele Mütter, die kurze Kinderbetreuungsgeldvarianten gewählt hatten, für das weitere Kind keinen Anspruch auf Wochengeld hatten. Dieses „Phänomen“ wurde in der Praxis bezeichnenderweise „Wochengeldfalle“ genannt.

Im Jahr 2022 hat der OGH aufgrund eines von der Gewerkschaft GPA Steiermark geführten Rechtsfalles entschieden, dass die bestehende Rechtslage der „Wochengeldfalle“ unionsrechtswidrig ist und gegen die Mutterschutz-RL 92/85/EWG verstößt. Dieses Urteil wurde zum Anlass genommen, um nun das Sonderwochengeld einzuführen.

Nunmehr haben alle Mütter einen Anspruch auf Sonderwochengeld, wenn eine gesetzliche Karenz aufgrund der Elternschaft vorliegt und kein Anspruch auf Wochengeld besteht.

Ein weiterer Anwendungsfall besteht für jene, die kürzer in der gesetzlichen Karenz bleiben, die Arbeit in Teilzeit schnell wieder aufnehmen und die Schutzfrist für das weitere Kind noch in der gesetzlichen Karenz für das vorherige Kind eintritt. Ist deren Wochengeld aufgrund der Teilzeit nunmehr niedriger als beim vorherigen Kind, besteht auch hier ein Wochengeldanspruch in der Höhe des Sonderwochengeldes.

Ebenso auch für Mütter, die nach Ende der gesetzlichen Karenz innerhalb von drei Monaten in die Schutzfrist für das weitere Kind gehen, aber karenzbedingt keinen durchgehenden Arbeitsverdienst aufweisen können.

Auch Selbstversicherte nach § 19 a ASVG haben Anspruch auf Sonderwochengeld nach einem fixen Satz.

Der Anspruch auf Sonderwochengeld besteht grundsätzlich 8 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin und 8 oder 12 Wochen nach der Geburt. Auch Mütter, die sich im vorzeitigen Mutterschutz (individuelles Beschäftigungsverbot) befinden, haben einen Anspruch auf Sonderwochengeld, wenn die sonstige Voraussetzung erfüllt sind.

Das Sonderwochengeld gebührt in der Höhe des erhöhten Krankengeldes, als Bemessungsgrundlage wird der letzte Arbeitsverdienst vor der Karenzierung herangezogen. Während dem Bezug des Sonderwochengeldes besteht eine Teilversicherung in der Krankenversicherung und in der Pensionsversicherung.

Das Gesetz tritt rückwirkend mit 01.09.2022 in Kraft. Bis 30.06.2025 können alle betroffenen Eltern, die vor der Kundmachung dieser gesetzlichen Regelung im Mutterschutz waren, aber kein Wochengeld beziehen konnten (=Wochengeldfalle) oder einen Anspruch auf Nachbemessung haben, Anträge auf Auszahlung des Sonderkrankengeld bei der Krankenversicherung stellen.

Information von der GPA

Wir werden nicht müde – auch einen Monat nach dem Tag der Pflege 

Am 12. Mai, dem Tag der Pflege, hat der ÖGB auf den Pflegenotstand in Österreich hingewiesen. Fast 200.000 Pflegekräfte fehlen bis 2050. Es ist mehr als an der Zeit die Augen zu öffnen: Die Pflege braucht Respekt und Zukunftsaussichten. Wir werden nicht müde! Auch ein Monat nach dem Tag der Pflege machen wir auf dieses wichtige Thema aufmerksam.

Pflegezuschuss für alle gefordert – Videobeitrag mit Angelika Hlawaty

Wir brauchen endlich eine nachhaltige Verbesserung unserer ArbeitsbedingungenUnsere Betriebsratsvorsitzende, Angelika Hlawaty, setzt sich gemeinsam mit der Gewerkschaft weiterhin dafür ein, dass die Ungleichbehandlung im Zusammenhang mit dem Pflegezuschuss bald der Vergangenheit angehört. “Diese Ungleichbehandlung muss beendet werden”, fordert Angelika in einem vor kurzem veröffentlichtem Videobeitrag des ÖGB zu diesem Thema.

Link zum Video mit Angelika Hlawaty, Betriebsratsvorsitzende Jugend am Werk Sozial:Raum GmbH

Bei uns im Behindertenbereich erhielten nur rund 50 Prozent der Beschäftigen den Pflegezuschuss, obwohl sie dieselbe Tätigkeit verrichten. Der Zuschuss wurde an die Ausbildung gekoppelt; im Behindertenbereich können jedoch Menschen mit vielfältigen Ausbildungen nach der Absolvierung des Ausbildungsmoduls „Unterstützung bei der Basisversorgung” (UBV) tätig sein.

„Die Anerkennung des UBV-Moduls für den Pflegezuschuss muss gesetzlich verankert werden. Diese Ungleichbehandlung muss beendet werden”, fordert Angelika.

Die Ungleichbehandlung im Zusammenhang mit der Auszahlung des Pflegezuschusses ist weiterhin unerträglich. Es muss hier endlich eine Nachbesserung geben. Alle Kolleg:innen die Pflege leisten müssen den Pflegezuschuss erhalten. Es geht hier nicht nur um Geld, sondern auch um den nötigen Respekt gegenüber der Arbeitsleistung unserer Kolleg:innen.

Die aus ÖGB und den Gewerkschaften GPA, GÖD, vida und younion vernetze Arbeitsgemeinschaft für Gesundheits- und Sozialbetreuungsberufe hat bereits genug Lippenbekenntnisse zu Verbesserungen gehört, es müssen Taten folgen.

Kollegiale Grüße

Der Betriebsrat